Manche Geschichten laufen einem eher zufällig über den Weg. Gerade diese sind es erfahrungsgemäß, die überraschen können. Und so kommt es, dass ich mich an einem Freitag gerade noch pünktlich bei Skype einwähle. Es ist Zeit für ein wirklich ungewöhnliches und doch sehr inspirierendes Interview.
Ich skype an diesem Tag mit Caio Graco aus Brasilia. Zustande gekommen ist es über einen gemeinsamen Kontakt. Das Gespräch führt dabei in völlig ungeahnte Richtungen.
Ein Ausweg gesucht
Caio ist ein absolut zielorientierter, meinungsstarker Mensch. So viel bin ich mir sicher nach unserem Gespräch. Wir haben uns ein wenig verquatscht könnte man meinen. Es ist die Offenheit, die während des Interviews entstanden ist, welche uns von einem Fachgespräch über eLearning zu einem kulturellen Austausch über Politik, Infrastruktur und Mentalität führt.
Der junge Brasilianer hat studiert, kam mit seinem eher theoretisch-orientierten Abschluss als System-Analyst aber nicht wirklich weiter. Er hätte zwar vermutlich an einen Job kommen können, seine Ziele liegen aber woanders.
Er habe die brasilianische Mentalität noch nie wirklich gemocht, wiederholt er immer wieder in unserem Gespräch. Die Behörden und Politik stünden sich nur gegenseitig im Weg. Die Infrastruktur gerade für Startups sei schlecht, die Situation für Gründer schwierig.
Mut zur Veränderung: Online Programmieren lernen
Caio hat es dennoch gewagt zu gründen. Er hat eine English School eröffnet. Gelernt wird online. „Aber alles läuft bei uns ab wie in einer echten Schule. Es gibt keine Software, mit der Schüler interagieren, oder vorgefertigte Videos“, spricht der junge Solopreneur mit Stolz.
Mitarbeiter hat er keine. Noch nicht. Aktuell spielt Caio den Englisch-Lehrer, Entrepreneur und Entwickler – alles in einer Person. Seine Webpräsenz hat er komplett selbst programmiert. Gelernt hat er das bei einem E-Learning-Anbieter aus Berlin. Online. Denn in Deutschland war Caio noch nie. Auch wenn er, wie er sagt, großen Respekt vor dem Land und seiner Mentalität hat.
Sein Eindruck aus der Ferne liegt irgendwo zwischen aufmerksamer Faktenstudie und gängigen Klischees zu unseren Gunsten. In jedem Fall ist er dem Angebot von CareerFoundry, wo er den Kurs zum Web Developer belegt hat, sehr dankbar. Ohne Vorkenntnisse im Programmieren hat er den Kurs in knapp einem halben Jahr abgeschlossen und damit die Grundlage für sein Business gelegt.
Ein gemeinsames Ziel
Dass dieses Business nicht bloß eine reine Online-Sprachschule sein soll, das hätte man sich bei Caio schon fast denken können. Was ihn antreibt, ist die Möglichkeit in naher Zukunft auswandern zu können. Der Weg soll aber nicht nach Deutschland, sondern viel mehr nach Kanada führen.
Dieses Ziel hat er mit den meisten seiner Schüler gemeinsam. Etwa 80 Prozent seiner Kunden, viele ebenfalls aus dem IT-Sektor, planen ebenfalls nach Kanada auszuwandern. In Caios Sprachschule legen sie den Grundstein um diesem Ziel, genau wie ihr Lehrer, ein gutes Stück näher zu kommen.
Von seiner Entscheidung auszuwandern, kommt Caio jedenfalls nicht ab. „Ich wäre schon weg aus Brasilien“, berichtet er, aber seine Frau habe ihr Studium noch nicht beendet.
Sicherheit als Basis
Ein Lebensweg als digitaler Nomade, wie es ein Online-Business durchaus anbietet, kommt für ihn zumindest vorerst nicht infrage. Zu wenig Vertrauen hat er in sein Land, die politische und wirtschaftliche Entwicklung. Er sucht die Sicherheit, die ihm Kanada bieten kann. Dann könne er später immer noch entscheiden, ortsunabhängig zu arbeiten. Mit kanadischem Wohnsitz als Sicherheit im Rücken.
Die Entscheidung Programmieren zu lernen wird er so schnell nicht bereuen. Denn auch Caio weiß, wie stark die Nachfrage nach qualifizierten IT-Kräften gerade in starken Ökonomien ist und welche grundsätzliche Freiheit er sich so nach und nach erarbeiten kann.
Internet der unbegrenzten Möglichkeiten
Ganz unabhängig von seiner Herkunft und den Gefühlen gegenüber seinem Geburtsland, muss man den absoluten Fokus von Caio ein Stück weit bewundern. Unser Gespräch zieht sich. Am Ende sind es 90 Minuten, die er in Brasilia und ich in Berlin über Arbeitsphilosophien, Infrastrukturen, Politik und Mentalität diskutieren. Zu keinem Augenblick habe ich auch nur einen Zweifel daran, dass Caio seine Ziele erreichen wird.
Es ist schon faszinierend, welche Möglichkeiten wir heutzutage haben, um uns weiterzuentwickeln und was diese im positiven Sinne aus manchen Menschen machen. Ich bekomme an diesem Tag den Eindruck, dass es nötig wäre uns diesen Fakt öfter bewusst zu machen.
